Das große Sterben

Das ist ein Ausschnitt aus Webers „Narrenschiff„, das ich am 6.2.2011 fotografiert habe. Kurz nachdem ich am Standesamt den Tod meines Vaters gemeldet habe.

Heute hat das RKI 952 Tote gemeldet.

In den Zeitungen heißt es oft: es sind die Altenheime.

Und dann kuckt man auf die Karte des Intensivregisters – und da sind überall noch Betten frei – kann ja irgendwie nicht so schlimm sein. Kriegt ja wohl noch jeder nen Anschluss an der Beatmungsmaschine.

Nein.

Viele Altenheimbewohner haben eine Patientenverfügung unterschrieben oder unterschreiben lassen. Also sterben die Alten in ihren Betten. Beatmet wird nicht.

Aussortiert wird nicht in der Notaufnahme – aussortiert wird schon vorher. Damit die Jüngeren ne Chance haben.

Die Wartelisten in den Altenheimen werden kürzer. Auf einmal sind kurzfristig wieder Zimmer frei.

Weihnachten? Auferstehung?

Jetzt geht erst mal das große Einsargen los.

Fotografiert eure Verwandtschaft. Dreht Videos. Lasst sie erzählen. Klärt alte Streitigkeiten und räumt Lebenslügen aus. Jetzt. Morgen kann es zu spät sein. Haltet dabei Abstand. Im Notfall per Zoom/Jitsi/Skype.

Aufschieben ist keine Option.

8 Replies to “Das große Sterben”

  1. Wer hätte gedacht, daß wir nochmal ein eine derartige Situation kommen?
    Seit dem Wegfall der Mauer war doch eigentlich Friede-Freude-Eierkuchen – und da kommt dann einfach eine Pandemie daher – und Zack, es gibt noch wichtigere Themen als Z-Promis un HalliGalli.
    Glücklicherweise gibt es etwas Licht am Tunnel (wer hat da eigentlich in Brüssel auf den Tisch geschlagen? Flinten-Usch? Mutti? Sonstwer?) – aber leider wird noch mindestens ein halbes Jahr in die Welt gehen, ehe dieses Licht großgenug ist.
    Bis dahin wird es so bleiben, wie Reinhard schreibt – halten wir es mit Horaz: carpe diem!

  2. Die Auferstehung kommt erst Ostern – bis dahin wird gestorben.

    Und nicht nur, weil da Patientenverfügungen gegen das Beatmen vorliegen…
    https://www.tagesschau.de/inland/triage-aussage-sachsen-101.html

    In Bautzen wird aufgerufen, wer auch immer eine auch nur minimale medizinische und/oder pflegerische Ausbildung habe, möge sich bitte melden zur Patientenversorgung!

    Das Problem sind nicht die Geräte oder Betten, sondern das Personal dafür. Wie du, Reinhard, hier schon „angedroht“ hattest…

    Ich zitiere dann mal wieder meinen Namensvetter:
    „Wenn Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und der Seuche zu wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften, Arznei geben und nehmen, Orte meiden, wo man mich nicht braucht, damit ich nicht andere vergifte und anstecke und ihnen durch meine Nachlässigkeit eine Ursache zum Tode werde.
    Wenn mein Nächster mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen…“
    Martin Luther, 1527 im Angesicht der Pest

    Egal, ob gottgläubig oder nicht – die Handlungsanweisung ist aktueller denn je…

    *grmpf*

  3. Das Bewusstsein um die eigene Endlichkeit oder der einem nahestehender Menschen hält meistens selbst nach schweren Schicksalsschlägen nicht lange an. Zumindest funktioniert das nicht bei vielen Leuten, die einem noch verbleibende Zeit , nach einer solchen Erfahrung intensiver zu nutzen.

    Ich weiß nicht, ob man das noch Glück nennen darf. Wir haben nach kurzer Zeit mehrere Impfstoffe, die medizinischen Erfolge bei der Behandlung machen Fortschritte und wenn das Virus nicht schwerwiegend mutiert, wogegen wir alle gemeinsam etwas beitragen können, müssen wir wohl alle dankbar sein, dass das zumindest für die Gesellschaft an sich vielleicht noch glimpflich – weil beherrschbar – ausgegangen ist.

    Was mir fehlt ist der Glaube, dass wir irgendwas daraus gelernt haben. Was wäre gewesen, wenn das Virus infektiöser oder tödlicher gewesen wäre? Das ist wie mit der eigenen Endlichkeit. Wir werden das schnell verdrängen oder uns in Filmen darüber gruseln, während wir z.B. für Futtermittel den Regenwald niedermachen. Corona ist bis an unsere Haustür gelangt. Andere Seuchen, zum Teil sogar mit einfachen Mitteln bekämpfbar, wüten seit Jahrzehnten fernab unserer Heimat und die Industrienationen rühren sich nicht.

  4. „Das Narrenschiff“ – ein beeindruckendes, zeitlos wirkendes Kunstwerk; dazu habe ich im Netz einen kleinen, bereits 2010 veröffentlichen Kommentar gefunden, den ich Euch nicht vorenthalten möchte: https://www.dewezet.de/startseite_artikel,-das-narrenschiff-ausgesetzt-im-meer-der-zeit-_arid,260264.html

    Wie wahr…

    Menschen sterben, aber es berührt viele von uns nicht… Wir nehmen das alles schon nicht mehr wirklich wahr – auch weil viele noch nicht unmittelbar mit dem Virus, den Leidenden und den Toten, konfrontiert wurden. Manche leben weiter in den Tag hinein und verhalten sich dabei verantwortungslos.

    Vielen Dank, lieber Reinhard, für Dein Foto und den aufwühlenden Text, der uns auch an unsere Verantwortung als Mensch in seinem sozialen Umfeld erinnert.

    Herzliche Grüße
    Wolfgang

  5. Das Narrenschiff des Sebastian Brant ist die perfekte Allegorie für die Krise der heutigen Zeit und macht das moderne Vokabular mit Covidioten, Querdenker ecc. zur Makulatur. Diese Moralsatire aus dem Spätmittelalter mit Anklängen an den beginnenden Humanismus charakterisiert treffend den Phänotypus des wissenschaftsfeindlichen, dumpen Krakeelers, der heute Versammlungsplätze, Innenstädte und z.T. politische Gremien flutet.

    Leider sind alle Hoffnungshorizonte, die uns derzeit durchhalten lassen, vermutlich eingeschränkter als erwartet.
    Neue Untersuchungen von Biontek/Pfizer haben gezeigt, dass im Primatenversuch die Impfung gut wirkt und die Schimpansen nach abermaliger Virusinokulation auch nicht erkranken, aber danach offenbar wiederum als Ausscheider von SARS COV-2 zu betrachten sind (bitte jetzt keine Diskussion um Tierversuche). Das heißt, dass auch nach Beginn der Impfkampagne die üblichen AHAL Richtlinien nicht außer Kraft sind und die Seuche weitergehen wird, bis nicht der letzte Senior entweder tot oder geimpft ist.
    Danach (oder gleichzeitig) kommen die Intermediate-Jahrgänge dran, deren Impfwilligkeit in Mitteleuropa immer weiter sinkt (in Österreich derzeit ca. 20%). Geringere Mortalität innerhalb dieser Gruppe wird negativ kompensiert durch erhöhte Invalidisierung und Defektheilung. Letztes Menetekel: Reinfektionen mit klinischer Symptomatik gibt es (selten aber doch) nach Impfung oder Ausheilung nach Spontaninfektion.
    All diese Erkenntnisse werden nichts ändern an der aktuellen Herdendrift, die Reise nach Narragonien geht weiter.

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