Gastbeitrag: Abschied von einer 104-jährigen

von Hans-Joachim Engell

Aufgrund des Ablaufes der Kesselfrist verabschiedete die Harzer Schmalspurbahn (HSB) Mitte Mai ihre letzte betriebsfähige Mallett-Lokomotive in den Ruhestand. HSB? Ja, da war doch was. Ende April 2014 haben wir im Rahmen des HOT (Harzer Olympus Treffen) die Werkstatt der HSB in Wernigerode besucht und hatten das Glück, zwei betriebsfähige Malletts in der Werkstatt bzw. davor bewundern zu dürfen.

Lokzug mit 99 5906 in Wernigerode, 25.4.2014

Dampflokomotiven der Bauart Mallett verfügen über ein zweigeteiltes Triebwerk, hier mit je zwei Zylindern je Antriebsgruppe. Sie wurden für extrem kurvenreiche Strecken entwickelt. Sowohl die Nordhausen-Wernigeroder-Eisenbahn (NWE) als auch die Gernrode-Harzgerode-Eisenbahn (GHE) erwarben Lokomotiven dieses Typs.

Acht Jahre später ist nun auch die Frist für die letzte der ehemals sogar drei betriebsfähigen Malletts abgelaufen – der 99 5906. Ursprünglich vorgesehen für die Heeresfeldbahn wurde diese 1918 gebaute Lok im Jahr 1920 an die NWE verkauft, erlebte den zweiten Weltkrieg, die Verstaatlichung der NWE und bekam ein „Deutsche Reichsbahn“ Schild an das Führerhaus. Sie erlebte die Gründung der beiden deutschen Staaten und die Teilung Deutschlands, das Ende des Zugverkehrs auf den Brocken und die (unblutige) deutsche Einheit. Sie wäre fast als Museumslok in den Westen verkauft worden und war zuletzt mehr als 20 Jahre im Betriebsdienst vor Regel- und Sonderzügen auf dem gesamten Streckennetz der HSB anzutreffen.

Teil des Streckennetzes der HSB ist die Selketalbahn, die ehemalige GHE, die ab 1887 von Gernrode (nach der Wende verlängert bis Quedlinburg) durch das Selketal Alexisbad, Harzgerode, Stiege und Hasselfelde sowie über den Anschluß nach Eisfelder-Talmühle (1905) auch die ehemalige NWE erreicht. Sie ist damit die älteste und meines Erachtens auch landschaftlich reizvollste Schmalspurbahn im Harz. Nach dem Kriege als Reparationsleistung abgebaut, wurde die Strecke bis Straßberg zwischen 1946 und 1950 wieder aufgebaut. Der Lückenschluß zwischen Straßberg und Stiege erfolgte 1983.

Die nun in den Ruhestand verabschiedete 99 5906 war seit den 50er Jahren der Einsatzstelle Gernrode zugeteilt und viele Jahre Stammlok auf der Selketalbahn.

99 5906 am 13.05.2022 an der Bekohlung in Gernrode
99 5906 am 15.05.2022 vor dem Lokschuppen Gernrode (HighRes)

Hier durfte sie nun noch einmal für zwei Tage in den Regelzugdienst zurückkehren bevor sie am Sonntag früh ihre alte Einsatzstelle zum letzten Mal mit Ziel Nordhausen verlassen hat.

99 5906 am 13.05.2022 bei der Ausfahrt Alexisbad
99 5906 am 13.05.2022 kurz vor Quedlinburg
Doppelausfahrt mit 99 7245-6 Nordhausen-Brocken in Eisfelder-Talmühle, 14.5.2022
letzte Ausfahrt der 99 5906 mit Lz nach Nordhausen am 15.05.2022

Von dort ging es mit einem Sonderzug nach Hasselfelde, wo sie künftig im dortigen Lokschuppen museal ausgestellt wird. Die Feuerbestattung im Hochofen bleibt ihr also erspart.

Hoffen wir, dass die HSB ihre Pläne wahrmacht und zum 125-jährigen Jubiläum der Brockenbahn wieder eine (oder zwei?) ihrer Malletts betriebsfähig aufarbeitet, um diese besondere Technik nachfolgenden Generationen live vorführen zu können. Sicher ist, dass es eine der drei noch vorhandenen, 1897 gebauten NWE-Loks sein wird. Die älteren Schwestern der 99 5906 sind leistungsstärker und dürfen eine höhere Zuglast auf den Haken nehmen.

Aber nach wie vor fahren auch im Jahr 2022 dampfbespannte Regelzüge durch das Selketal. Der Ostharz ist nicht nur für Eisenbahnfreunde immer eine Reise wert.

Alle Fotos entstanden mit der Olympus OMD EM1 III mit dem 4,0/12-100mm oder dem 1,4/20mm. Das Foto vor dem Lokschuppen wurde im hochaufgelösten Modus gemacht – der HighResShot ermöglicht eine nach meinem Empfinden interessante Darstellung des austretenden Wasserdampfes aus den Zylindern. Eine Technik, die ich mittlerweile auch gerne bei fließendem Wasser anwende.

Selkewasserfall bei Drahtzug im Frühjahr

9 Replies to “Gastbeitrag: Abschied von einer 104-jährigen”

  1. Hallo Hans -Joachim,
    Eine schöne Zeitreise die du uns hier vermittelst.
    Schöne Bilder einer Faszinierenden Technik.
    Das Harzer Olympus Treffen das du mit deiner Frau, Brutus, und allen anderen auf die Beine gestellt hast war toll.
    Leider ist die Dampflok in der Form wie sie einige von uns Kennenlerne durften bald Geschichte.
    Es wird viele Gründe haben.
    Materialermüdung der Loks.
    Die Reparaturkosten, Spezialwerkstätten die Schweißarbeiten am Stahl durchführen müssen. Eventuell Röntgen der Schweißnähte, Behälterdruck Prüfung, spezielle Bauteile beim Teilewechsel.
    Endgültige Technische Abnahmen. Enthusiasten die die Strapazen als Hobby auf sich nehmen wollen.
    In meiner 40-jährigen Kraftwerkszeit, habe ich eine Kesselexplosion mitgemacht. Die Rohre haben gehalten, sonst hätte es Tote gegeben.
    Instanthaltung der Gleise. Beschaffung der Steinkohle, der Steinkohle Bergbau in Deutschland ist Geschichte. Es bleibt die Polnische Kohle, zu viel Fremd/Schwebstoffe -schlechte Heizwerte und Feinstaub/Glutauswurf. Die Walisische Kohle ist exzellent. Bleiben die exorbitant gestiegenen Beschaffungskosten. Eventuell ist die Kessel Feuerung unter einem schlechten Wirkungsgrad für Holz geeignet….
    Wie du geschrieben hast, die Kesselfrist.
    Die Strecke wird vermutlich mit Triebwagen neuer Generation in Betrieb bleiben?

    Herzliche Grüße
    Wolfgang

    1. Hallo Martin,
      die HighRes-Technik führt durch die Verrechnung mehrerer Aufnahmen für eine Unschärfe im bewegten Teil des Bildes. Schön zu sehen ist dies bei dem Foto der 99 5906 vor dem Lokschuppen: der Austritt des Wasserdampfes aus dem Zylinder erscheint „fließend“ und entspricht damit sehr der Wahrnehmung durch das menschliche Auge. Ebenfalls darauf zurückzuführen ist die Unschärfe des Personals auf der Lok – die ich hier in diesem speziellen Fall als nicht störend empfinde.
      Analog bei dem Foto des Selkewasserfalls: auch hier entsteht ein „fließender“ Eindruck, der mir persönlich besser gefällt als die Verwendung von Graufiltern. Ich habe mit allen drei Varianten experimentiert: ND-Filter vor dem Objektiv, digitaler ND-Filter der Kamera und eben die HighRes-Technik. In diesem Fall gefiel mir die HighRes-Technik am besten. Ist aber natürlich Geschmackssache…
      Viele Grüße
      Hans-Joachim

        1. Hallo Martin,
          also grundsätzlich hat ja auch die PEN F den HighRes-Modus. Soweit ich weiß, allerdings noch nicht im Freihand-Modus, d.h. bei der EM1 III wird im Freihandmodus die Handunruhe genutzt und nicht der Sensor verschoben. Meine Aufnahmen sind alle Freihand entstanden, ohne Stativ.
          Man müsste es ausprobieren, welche Wirkung bei der PEN F im HighRes-Modus vom Stativ zu beobachten ist.
          Insbesondere bei der Aufnahme des Selkewasserfalls ist zu sehen, dass eine Mischung aus scharfen Spritzwasserbereichen und fließenden Bereichen entsteht. Das ist für mich das Faszinierende an dieser Methode.
          Viele Grüße
          Hans-Joachim

  2. Danke für deinen Bericht, (Weckt Erinnerungen an den letzten Harzurlaub, bei dem wir der Bahn leider zuwenig Aufmerksamkeit gewidmet haben! ) Das ist Dampf-Eisenbahngeschichte pur!
    Beste Grüße
    AndyT

  3. Sehr informativer Text und teilweise sehr beeindruckende Bilder, die die Zeit der Dampflocks stimmungsvoll einfangen..
    Gruß Lutz

  4. Hallo Hans-Joachim!
    Das Problem der Ersatzteile, Genehmigungen und der Kohle trifft leider ziemlich alle Museumsbahnen. War vor ein paar Wochen auf der Steyrtalbahn, auf der mein großer Bruder mit seiner Familie an Wochenenden und Feiertagen Fahrtdienst macht.
    Er hat auch geklagt, dass es immer schwieriger wird, brauchbare Kohle zu vernünftigen Preisen zu bekommen.
    Vom Nachwuchs her ist er besser dran. Bei der letzten Lokführerprüfung waren mehr als die Hälfte unter 25 Jahre alt!
    Liebe Grüße,
    Helge

  5. Hans-Joachim,

    herzlichen Dank für diese wunderschöne Erinnerung an dieses Treffen vor acht Jahren.
    Erstaunlich wie die Zeit wegfliegt. Aber diese Bilder wecken ehr schöne Erinnerungen…

    LG Andreas

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