Der Manierismus der Fotografie

Wer im Kunstunterricht aufgepasst hat, kennt den Begriff. Er bezeichnet eine Epoche der Kunst im Übergang von der Renaissance zum Barock. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass Künstler mit extremen technischen Schwierigkeiten und ausgeklügelter und teils völlig übertriebener Gestik arbeiteten. Es ging gar nicht mehr so ums Bild, sondern darum, zu zeigen, dass man die Technik beherrschte – ob nun die Technik der Malerei oder die Technik der Bildhauerei.

Im Barock fand man den Manierismus schon ziemlich gestrig und in den folgenden Jahren wurde sein Ruf nicht besser. „Maniriert“ wurde zum Schimpfwort. Eingebildet, übertrieben. Michelangelo war der Erste, Tintoretto und El Greco – und viele andere taten es ihm nach. Da wurden die Beine in die Länge gezogen und die Anatomie generell je nach Bedarf gestaucht oder gedehnt – erlaubt ist, was spektakulär ist. Und während die Renaissance noch im Wesentlichen italienisch ist, (Ausnahmen bestätigen die Regel) verbreitete sich der Manierismus über ganz Europa.

Die Entwicklung der Fotografie ähnelt dem Manierismus. Die Renaissance des Sehens ist vorbei – wir befinden uns im Manierismus der Fotografie. Jeder kämpft um seinen persönlichen Stil (seine „Manier“, wie man damals gesagt hat) und versucht Schwierigkeiten und technische Besonderheiten zu stapeln (Freistellung!!! Lichtriesen!!!) um sich von der Konkurrenz abzuheben. Auch heute werden wieder Körperteile in die Länge gezogen, verdreht, vergrößert, verkleinert.

Der Manierismus war eine „höfische“ Kunst – die Künstler konkurrierten um die lukrativen Aufträge der Fürsten. Fürsten haben wir nicht mehr, jetzt ist das Internet-Publikum die Zielgruppe. Je mehr Klicks, desto mehr Fame, desto mehr Bestätigung – und am Ende zahlen sich die Klicks und Follower wieder in Influencer-Aufträgen aus. Es hat sich nichts geändert.

3 Replies to “Der Manierismus der Fotografie”

  1. Ohja!
    Meine Manier ist das Langziehen von Frauenbeinen… 😉
    Internet-Publikum als Zielgruppe? Ja, auch. Vor allem „muss“ es mir und der abgelichteten Dame gefallen.

    Bei Aufträgen jenseits von Reportage (das reale Sehen technisch festhalten und anderen zugänglich machen) bin ich häufig außen vor, weil ich üblicherweise „fotorealistisch“ im echten Wortsinn fotografiere. Filterspielereien mache ich eher selten.
    Mache ich sie (PEN-F) ist das wieder Manierismus: ich spiele mit technischen Besonderheiten…

    🙂

    jm2c, Martin

  2. Der persönliche Stil, die eigene Handschrift, entwickelt sich im Laufe Jahre, so oder so. Sei es in der Musik, der Malerei, der Fotografie, der Kleidung, … Die „Manien“, die man zwischendurch auf dem Weg entwickelt und auch wieder verliert, gehören einfach zur Weiter-Entwicklung dazu.

    Mädchen z.B. verschönern in der Pubertät gerne ihre Handschrift z.B. durch kleine Kreise oder Herzchen über dem i, um sich von den anderen abzuheben. Fängt eine damit an, machen es die anderen nach. Es wird zum allgemeinen Trend innerhalb der Gruppe, zur Manie.

    Ein ähnliches Phänomen kann man in der Fotografie, hier kann ich allerdings nur für die Wettbewerbsfotografie der letzten 6 Jahre sprechen, beobachten.
    Es scheint Epochen zu geben, wo bestimmte Motive und Bearbeitungen „in Mode“ sind:
    Traurig blickende Menschenaffen, gerne in dramatischem Ton, Nackte mit Schattenstreifen über dem Körper oder mit allerlei „artfremdem“ Zeugs behängt, Treppenhäuser, Weißkopfseeadler, unscharf durch das Bild Huschende in grobem Korn in SW, …
    Da bricht jedes mal eine Manie aus, wenn jemand Medaillen für ein „neues Motiv“ erlangt hat. Plötzlich gibt es (gefühlt) ganz viele davon. Das, was mal einzigartig war, wird zum Mainstream. Der „Markt“ wird damit überschwemmt und damit geht die Einzigartigkeit verloren, die dem Bildautor den Preis eingebracht hat und ein gewisser Manierismus macht sich breit, was dieses Motiv und/oder diese Art der Darstellung/Bearbeitung betrifft.
    Aber, was soll’s: Es gibt Likes, Sternchen, Awards…! Und darauf kommt es an.

    Hier siedle ich dann die Qualität des eigenen kreativen Schaffens, der eigenen künstlerischen Handschrift, an, die sich zwar eines Motivs annehmen kann, es jedoch, der eigenen Art zu sehen entsprechend, adaptiert, transformiert, vielleicht auch persifliert und somit zu etwas unverwechselbar Eigenem macht.

    Was die finanzielle Seite bei den Berufskreativen anbelangt, so ist es halt, wie es einer meiner Malerfreunde, der es geschafft hat, seine 5-köpfige Familie nur durch die Einkünfte aus seiner Malerei zu ernähren, einmal sagte: “Eigentlich male ich lieber was ganz anderes, aber das verkauft sich nicht so gut!“

    Es war doch schon immer so: „Wes Brot ich fress, des Lied ich sing!“ Da hat sich durch die Jahrhunderte nichts geändert.
    Aber, man kann es auch auf seine eigene Weise, in seiner „Manier“ singen! 🙂 Und darauf kommt es doch an, oder?

    Also, bleibt kreativ!
    Dagmar

  3. Das Fotografieren für das Publikum in Zeiten des WWW, ein großes, ein zentrales Problem im Zusammenhang mit der Findung einer eigenen fotografischen Identität. Die suchen aber 99,99% der Freizeitknipser gar nicht. Was sie versuchen ist ein stilistisches Alleinstellungsmerkmal zu finden, das sie als Marke im ewigen Wettbewerb um das bessere Nachmachen wiedererkennbar macht.
    WW

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