Nachdem jetzt beim Porträtthread Ruedi sich mal Gedanken um den Ohrenabbildungsmaßstab gemacht hat, denke ich, ist es an der Zeit, sich unserer Wahrnehmung anzunehmen. Unser Auge ist nämlich – im Gegensatz zu dem, was da so in den “Fotofachbüchern” behauptet wird, eine ziemlich lausige Objektiv/Sensor-Kombi. Unser Sensor kann nur 7EV und er ist noch nicht mal plan. Im Normalfall liefert er folgendes Bild:
Der schwarze Fleck links vom Steuerhaus ist der sogenannte “Blinde Fleck”. Da ist ein Loch in unserem Sensor. Unsere Olys sehen das gleiche Bild so:
Wir denken aber, dass wir die Szene so sehen, wie im unteren Bild. Außer, wir haben zu viel psychoaktive Substanzen zu uns genommen, dann sehen wir es wie oben.
Der Grund ist simpel: Unser Gehirn baut aus dem lausigen Bild, das das Auge liefert, ein dreidimensionales Modell unserer Umgebung auf, das durchgängig scharf ist, weil unsere Augen dauernd in Bewegung sind und alle Teile unserer Umgebung “scannen”. Unsere Augen haben wie jedes Objektiv eine begrenzte Schärfentiefe, das geistige Bild unserer Umgebung ist aber durchgängig scharf.
Unser Gehirn ist dabei ziemlich schlau. Es baut nicht einfach ein 2D-Pano auf, sondern extrudiert die Objekte, so dass wir eine dreidimensionale Vorstellung unserer Umwelt haben. Wir können eine Flasche greifen und “wissen”, dass sie auch auf der Rückseite noch rund ist, wo wir nicht sehen, dass sie rund ist. Aber wir haben mal die Rückseite gesehen und uns das gemerkt.
Bei dem abgebildeten Feuerschiff wissen wir, dass das auf der anderen Seite nicht viel anders auskuckt. Weil wir es bei der Ankunft gesehen haben, weil wir öfter schon Schiffe gesehen haben.
Diesen Effekt machen sich “Zauberkünstler” und Filmemacher zunutze. Die Magier verstecken in dem Eck unserer Vorstellung, das wir gerade nicht nachkontrollieren, einen Elefanten, den sie dann – Simsalabim – zum Vorschein holen können, die Filmemacher lassen Kulissen bauen, die von vorne so auskucken, als wäre hintendran viel Stein und Glas.
Es gibt diese berühmten Videos, die Probanten mit der Aufgabe gezeigt wurde, sie sollten nachzählen, wie oft der Ball zwischen den gezeigten Personen hin- und hergespielt wurde. Auch das hat mit unserer Wahrnehmung zu tun.
Um nun an den Anfang zurückzukommen. Es ist tatsächlich korrekt, dass wir auf kurze Entfernung ein Gesicht mit dicker Nase und kleinen Ohren sehen – wir nehmen es aber nicht wahr. Wir haben von unserem Gegenüber ein dreidimensionales, natürliches Bild im Kopf. Und keines, durch optische Effekte verzerrtes, zweidimensionales Bild. Die Argumentation “Wir haben eine Normalbrennweite im Kopf, also müssen alle Leute, um “korrekt” abgebildet zu werden, auf Gesprächsentfernung mit Normalbrennweite fotografiert werden.” berücksichtigt das nicht.
Unser Bild der Umwelt ist dreidimensional.
Interessant wird es nun – gerade für uns Fotografen – wenn es um das Selbstbild von Personen geht. Personen sehen sich selbst im Spiegel – da ist der Abstand meistens etwa Gesprächsentfernung – und im Handy – halbe Gesprächsentfernung. Was die halbe Gesprächsentfernung anrichtet (Zunahme an Nasenverkleinerungen) ist ja bekannt. Aber auch die Gesprächsentfernung kann verheerende Folgen haben. Wenn sich eine Frau in einem Bodenspiegel ankuckt, steht Sie meistens davor, kuckt von oben nach unten (sich selbst in Bauchnabelperspektive kann man nicht ankucken) und wird Opfer einer optischen Täuschung. Aufgrund der Perspektive schrumpfen die Beine, die Schultern werden breit, die Oberweite wächst und die Hüfte genauso. Effekt: “Ich bin so dick.” Damit das ausgeglichen wird, wird entsprechend “abgespeckt”.
Hier haben wir 14mm. Und beim nächsten Bild 45mm. Bauchnabelperspektive:
Die Frau war ein gutes Jahrzehnt international als Model tätig – aber sie wusste nicht, wie sie wirklich aussieht. Sie kannte von sich nur verzerrte Perspektiven, sowohl im Spiegel, als auch von Fotografen. Fotos von der Seite zeige ich hier nicht.
Wir sollten als Fotografen darauf achten, Menschen so zu zeigen, wie sie sind. Und wie sie in unserem Kopf existieren.
Der Spruch von Capa “wenn Dein Foto nichts taugt, warst Du zu weit weg” stammt aus der Kriegsberichterstattung. Wer von ganz weit hinten das Gefechtsfeld fotografiert hat, bekam nur ein paar schwarze Flecken auf den Film und musste dann den Leuten erklären, das sei ein Nazi-Panzer. Capa ging nach vorne und trat dann in Vietnam auf eine Landmine.
Haltet Abstand.
Der Unterschied ist frappierend. Im nach unten fotografierten Weitwinkelbild hat die Frau fast eine Kleinkinderfigur: großer Kopf und kurze Beine. Vielleicht sind deswegen in besseren Bekleidungsgeschäften die Spiegel leicht nach hinten geneigt.