Für die Ewigkeit fotografieren

Ich hatte das ja vor ein paar Jahren schon mal thematisiert. Ob sich der Wert einer Fotografie daran bemisst, ob sie überdauert. Jetzt hat Frank das Thema in einem sehr lesenswerten Kommentar gestern wieder aufgegriffen.

Dazu ein paar Gedanken von mir, nachdem ich tausende Bilder aus der Verwandtschaft digitalisiert und verschlagwortet habe.

Wir reden jetzt nicht von ikonischen Bildern, die zeitlos sind, weil da Leute drauf sind, die man kennt. Monroe-Fotos. Oder Kennedy. Oder das Foto Churchill/Stalin/Roosevelt.

Ich denke da an Bilder, die man auch als Otto Normalfotograf machen kann.

Es gibt Bilder, die Zeitgeschichte dokumentieren. Häuser, die es nicht mehr gibt, Natur, die es nicht mehr gibt, Dinge, die so nicht mehr passieren können. Wenn solche Dinge kombiniert werden, wird das immer besser. Menschen in der Mode der Zeit vor Kulissen der Zeit. Die vielleicht auch noch typische Dinge der Zeit tun. Da sind es dann Fotos, in denen man jedes kleine Detail studieren kann – weil es eben wie eine Zeitkapsel ist. Die Essenz.

Das Titelbild ist in der Tucherstraße 20 in Nürnberg fotografiert. 1910. Wenn damals der Fotograf kam, wurden die Leute auf die Straße gestellt und mussten zum Fenster runterkucken. Nicht Alltag, aber trotzdem ein Zeitdokument auf Glasplatte.

Was ist dagegen in 50 Jahren wertlos? Nackedeis auf weißen Würfeln im Studio. Blümchen. Schwäne. Bussard, Milan, Eiffelturm. Mein Vater hat 1939 in Nürnberg alle Sehenswürdigkeiten fotografiert, weil er vermutete, dass Nürnberg im Krieg platt gemacht wird. Nur: fast alles, was er fotografiert hat, hat den Krieg überlebt oder/und wurde wieder aufgebaut. Dinge, die er nicht fotografiert hat: die kleinen Gassen, die ärmlichen Fachwerkhäuser, die kleinen Läden. Den Milchmann. Die Straßenbahn.

Dies ist der Blick von der Nürnberger Burg zum Wolffschen Rathaus. 1939.

Und das ist von 2009. Nein, die Bäume sind nicht von damals, die sind, soweit sie nicht im Bombenhagel verbrannt sind, nach dem Krieg verschürt worden. Der Unterschied: Autos. Und natürlich sind fast alle Häuser von damals nicht mehr existent. Aber man sieht die Häuser nicht. Das Foto ist im Winter gemacht und in der Heizperiode hatte es in Nürnberg veritablen Smog. Also eher nicht so das Knüllerfoto. Das hier, von 1952 halte ich für weit besser:

Da sind ganz viele Details spannend. Die Mode, der Brezelkäfer mit Besatzungskennzeichen, das Kind auf der Treppe, das holprige Kopfsteinpflaster und das Parkverbot am Kirchenausgang. Hat jemand eine Ahnung, wo das ist? Der Rest des Filmes war in Heidelberg, aber eine solche Kirche habe ich in Heidelberg nicht gefunden. Vermutlich ist die Kirche irgendwo in BW. Mehr weiß ich nicht.

Ja, Schnappschuss. Aber einer, der viel erzählt. Neudeutsch „Street-Photographie“. Simple, einfache Kamera. Standardobjektiv.

Heute läuft es anders: mit einem ungeheueren, finanziellen Aufwand werden Viecher fotografiert. Jeder braucht sein persönliches Foto eines Eisbären. Wen interessiert das in 50 Jahren? Eisberge werden fotografiert, Wasserfälle, die Milchstraße. Gerade die Wahrscheinlichkeit, dass sich für stark nachbearbeitete Fotos von der Milchstraße irgendwer interessiert ist relativ gering. Ausgerechnet in Norwegen ist das Knipsen von unbekannten Wasserfällen dagegen sinnvoll – da kann es jederzeit passieren, dass dem Wasserfall das Wasser zugunsten eines Kraftwerkes abgedreht wird.

Hier kam bis 1911 der Rjukanfossen runter. Über 100 Meter. Dann haben sie ihm das Wasser abgedreht und damit das damals größte Kraftwerk der Welt, Vemork, betrieben. Weil es ein bisschen überdimensioniert war, hat man dann „grünen Wasserstoff“ damit erzeugt. Dabei entsteht als Nebenprodukt „schweres Wasser“. Das wiederum fanden die Nazis spannend, was wiederum die Briten dazu veranlasst hat, das Kraftwerk zu bombardieren, was vor allem norwegischen Zivilisten das Leben gekostet hat. Allein bei der Versenkung der Fähre „Hydro“ kamen 19 Zivilisten ums Leben – wegen einem 10-Liter-Eimer schweren Wassers.

Eine Beschreibung des Wasserfalls von Bernhard Dunker vom Anfang des letzten Jahrhunderts: „…hier war der Wasserfall in seiner unendlichen Schönheit. Wie durch Zauberei stand ich ihm unmittelbar gegenüber. Angesicht zu Angesicht mit dem mächtigen Wasserfall und einer Landschaft, die in ihrer Grösse und Erhabenheit die gewagtesten Träume meiner Fantasie überstieg … „

Ja, gelegentlich kommt da noch Wasser runter, wenn der See überläuft oder das unterirdische Kraftwerk im Tal Wartung hat. Oder für Touristen im Juli. Das Foto des Nicht-Wasserfalls ist natürlich Tonne. Genauso wie das Foto einer Wiese „Hier stand mal…..“. Außer in einer Vorher/Nachher-Serie.

Was will ich nun sagen? Nein, es kommt nicht aufs Werkzeug an. Man kann digital genauso gut fotografieren wie mit Film. Man muss sich halt die Zeit nehmen, die Situation betrachten, eintauchen, antizipieren was passieren wird und dann fotografieren.

Ich war einmal mit Hauke auf Fototour. Habe ich oft erzählt. Wir haben eine Sulzbürgerin angequatscht, ihren Hund gekrault und ich habe einen Schlüssel für den jüdischen Friedhof organisiert. Und zwischendrin hat Hauke ein Foto der Sulzbürger Gassigeherin gemacht. Eines. Genau DAS Foto. (Kann ich hier nicht zeigen, a) weil ich nicht habe und b) weil es natürlich Hauke gehört) Im perfekten Licht, in perfekter Pose, Perspektive, alles Zipp und Zapp. Es war ne Fuji mit irgendeinem unspektakulären Objektiv.

Es geht darum, die Situation zu verstehen. Und sie abbilden zu wollen. Und sich dann zu überlegen, was ist an dieser Situation wichtig. Für mich. Für Andere. Vielleicht für die nächsten 100 Jahre.

Stockholm 2009.

Ich habe viele, sehr viele touristische Fotos auf der Platte. „Must Knips“. Und dann ganz viele Detailaufnahmen, optische Spielereien mit wilden Perspektiven. Unmassen Türen. Aber was ist wichtig? Telefonzellen, Mülleimer, Gullideckel. Und simple „Must Knips“. Das Nordkappmonument hat spannende Nieten und Schweißpunkte. Details, Perspektiven.

Aber das Verblüffendste daran ist, dass man an diesem Felsen steht, nach fünftausend Kilometern, an einem riesigen Parkplatz, neben einer fetten Touristenfalle, bei der man 30 Euro zahlt, nur um in den Souvenirshop zu kommen. Es gibt nichts zu sehen, und während der Hauptsaison sieht man nicht mal nen Sonnenuntergang. Und man steht trotzdem dort und sagt sich „Geschafft“.

Und ja, um solche Fotos zu machen, muss man Ende August dort sein und zwei Funkblitze dabei haben.

Makros machen ist spannend. Macht Spaß. Vögel knipsen auch. Und Pilze. Und vergammelte Türen. Aber knipst auch die „normalen“ Bilder. Und staunt über Dinge. Die Dinge, die gerade „In“ sind, sind leider viel zu schnell auch wieder „out“.

Und es wäre schade, wenn tolle Portfolios im Nul-Device landen, nur weil die Erben auf den ersten Blick nur Bienen, Blumen und Klapperstörche sehen.

7 Replies to “Für die Ewigkeit fotografieren”

  1. Immer wieder berührend, faszinierend und inspirierend, Deine sanfte und unaufdringliche, zugleich überwältigende Weisheit zu genießen. Danke Reinhard für diesen Beitrag!

  2. Jetzt stell Dir vor, die ganzen „schönen“ alten Aufnahmen sind auf Festplatte … und jetzt?

    Ja die Festplatte kann man in die Hand nehmen, sieht halt keine Bilder. Ein Papierbild, eine Glasplatte, ein Fotobuch wären vielleicht eine Idee.

    So gerne ich digital fotografiere, es wird eine Zeit ohne Bilder geben, denn keiner kann sie mehr sehen (lesen von der Festplatte / Cloud / was auch immer)

    Nachdenkliche Grüße

    1. Ja, Fotobücher sind extrem wichtig. Mit Hintergrund. Ich habe viele, viele unbeschriftete Abzüge und Glasplatten und Negative und Dias und erst durch die Digitalisierung und Sortierung und Verschlagwortung und Ähnlichkeitssuchen und Gesichtserkennung und Abgleich mit zeitgleichen, digitalisierten Briefen habe ich die Chance, da was draus zu machen, was meinen Kindern irgendwas sagt. Geschichte zu schreiben, im wahren Sinn des Wortes. Ich kann nur hoffen, dass ich das rein zeitlich noch schaffe.
      Ich habe eine Zeitlang Autobiographien von völlig unbekannten Zeitgenossen in Kleinauflage gedruckt. Für mich der berühmte Sack Reis, auch wenn da ab und zu ein Nazi mit nem Bundesverdienstkreuz dabei war. Aber für dessen Kinder und Enkel eine unschätzbare Quelle zum Verständnis.

  3. Sehr nachdenkenswert. Faszinierend, wie in Nürnberg 1939 keine Auto-Straße zwischen den Häusern war, sondern nur ein Fußweg. Heute finden wir schon Städte, wo aus Platzmangel der Bürgersteig nicht mehr vorhanden ist.
    Persönlich liebe ich es, etwas zu fotografieren, was sonst nicht gut oder nur extrem kurz sichtbar ist. Daher liebe ich Makro und Bewegungen einzufrierden, weil es für mich auch eine Entdeckungsreise ist etwas dann länger sehen zu können. Aber wenn ich einen Jahreskalender zusammenstelle wird mir immer wieder bewusst, dass ich fast nur Fotos von Menschen benutze.
    Die anderen Fotos sind schön dabei zu haben, aber bilden eher Lückenfüller.
    Die Menschen sind hier das Wichtige.

  4. Nunja, ich fotografiere Alltag…
    Für mich, für andere, für die Ewigkeit!
    Hin und wieder Nackedeis, nicht selten für deren Selbstwertgefühl (das wäre eigentlich einen eigenen Post wert: warum tut es dem Mädel von nebenan gut, wenn sie sich erotisch fotografieren lässt (nein, nicht das Reise-Model, was seine Familie in der Heimat finanziell unterstützen muss…)).
    Und ich fotografiere auch Eisbären und -berge, Wasserfälle, Gletscher und Pinguine. Auch für die Ewigkeit! Denn vermutlich sind wir die „last generation“, die das noch kann!
    Und vermutlich gilt tatsächlich für alles der weise Spruch: Bilder gehören gedruckt!
    jm2c, Martin

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