Von Holden zu Uschi Brüning

Diesmal was völlig anderes. So ein bisschen West/Ost-algie. Ich fang mal an mit meiner Ausbildung am Albrecht-Dürer-Gymnasium in Nürnberg – genau die Bildungsanstalt, die solche Geistesgrößen wie Markus Söder hervorgebracht hat. In Deutsch war am „Dürer“ der „Plenzdorf“ Pflichtlektüre. Als Beispiel für DDR-Gegenwartsliteratur, dass da drüben selbst so harmlose Bücher bereits voll systemkritisch und gefährlich waren. Weil Edgar Wibeau ja in der ersten Fassung Erfolg hatte und sein Farbsprühgerät der Megaknaller und er der große Held wurde. Und die Stasi hätte Plenzdorf gezwungen, das Ende umzuschreiben. Weil ein Outlaw darf in der DDR keinen Erfolg haben.

Gut, dass Plenzdorf selber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der „Neuen Leiden“ IM war, das wusste man damals nicht. Und auch nicht, dass er kurz nach der Veröffentlichung dann selber überwacht wurde. Darum geht’s mit heute aber gar nicht. Denn Edgar hatte ja auf dem Klo eine Reclam-Ausgabe des Werthers gefunden, die Vorsatzblätter zweckentfremdet und hinterher das Buch gelesen – und fand es ziemlich cool. Also bin ich los, habe mir den Werther besorgt, gelesen, und fand den als Einstiegsdroge für den ollen Goethe echt knorke. Und dann hat er noch ein Buch über den grünen Klee gelobt. Den Fänger im Roggen vom Salinger. Also auch den im Antiquariat besorgt und mich durchgekämpft. Seinerzeit fand ich Holden Caulfield ziemlich durchgeknallt. Nervig. Hängt nur rum, findet alles ätzend und hat dauernd Kopfschmerzen. Sollte er weniger rauchen und saufen. Der „Fänger“ landete im Regal und fristete dort ein unbeachtetes Dasein während der Rückenleim langsam in seine Bestandteile zerfiel.

Vor drei Wochen habe ich ihn wieder ausgegraben, weil ich derzeit die Bücher in meiner Bibliothek auf ihre Existenzberechtigung überprüfe. Wenn ich ein Buch sterbenslangweilig finde, landet es in der Kruppacher Telefonzelle. Egal, welcher klangvolle Name vorne drauf steht.

Also habe ich mich jetzt drei Wochen durch die Verbalinjurien von Holden Caulfield gekämpft und festgestellt, dass es die hochgelobte Jazzsängerin Estelle Fletcher nicht gab – und auch ihren Song Little Shirley Beans nicht. Eine Information, die mir anno 1980 natürlich nicht zugänglich war. Internet gab es noch nicht. Und ich kannte niemanden, der sich mit amerikanischen Jazzsängerinnen der frühen 30er Jahre auskannte. Mittlerweile gibt es den Song – aber immer noch nicht auf Platte.

Anscheinend war Plenzdorf dieser Umstand nicht bekannt, denn Edgar Wibeau schwärmt auch für eine Jazzsängerin – nur gibt es die tatsächlich. Nämlich Uschi Brüning. Anno 1972, als das Buch geschrieben wurde, hat Uschi Brüning auf Platte mehr so deutsche Schlager gemacht – die Musikfreaks von damals mögen mir verzeihen, ich kann das nur über das bisschen beurteilen, was auf YouTube hochgeladen ist – aber dass sie es drauf hat, kann man hier bewundern:

Das ist von 1985. Es gibt auch neuere Sachen, aber da eben kaum was längeres. Das hier habe ich gefunden… Derzeit ist sie auf Tour.

Ich fand das ziemlich spannend – denn natürlich ist Frau Brüning 1980 in der Besprechung des bayerischen Deutschlehrers mit keinem Wort erwähnt worden – und natürlich auch Estelle Fletcher nicht. Wobei ich bezweifle, dass mein Deutschlehrer sich den Salinger angetan hat.

Man stolpert beim Lesen über Dinge, schaut nach, stolpert über das nächste Ding. Und irgendwann schließt sich der Kreis wieder. Denn interessanterweise war ich Anfang der 80er im Jazzstudio in Nürnberg und habe mir einen berüchtigten Schlagersänger angehört – Bill Ramsey. Die Zuckerpuppe von der Bauchtanzgruppe. Genau den. Ein begnadeter Jazzer. Natürlich im Jazzstudio ohne Bauchtanzgruppe.

Das Titelbild? Berlin 1980. Ost. Habe ich, glaube ich, schon mal gezeigt.

3 Replies to “Von Holden zu Uschi Brüning”

  1. Wir beide sind wohl ungefähr gleichaltrig. 1979 /80 (so genau weiß ich das nicht mehr) haben wir uns im Englisch-Unterricht durch den „Catcher in the Rye“ gekämpft. Ich fand das auch nur ätzend, ich hatte damals genug eigene alterstypische Probleme, für die ich lieber Lösungsideen gehabt hätte, als mich mit den Erlebnissen des Holden Caulfield zu beschäftigen. Wenigstens konnte man seinen Wortschatz erweitern… Irgendwann viel später habe ich es noch einmal gelesen und fand es ganz witzig.

  2. Was für wunderschöne Berichte, Informationen und Hinweise! Von Uschi Brüning und dem Roman “Die Leiden des jungen W.“ aus der damals noch jungen DDR hatte ich noch nie gehört – obwohl als geborener Wessi eigentlich immer auch stark an der DDR-“Kultur“ interessiert (Eigentümer von Faltboot Pouch RZ 85, Motorräder MZ ETS 250, MZ TS 250, Bruns Plattenspieler mit Verstärker und Boxen, Porst Cosima SLR made in GDR). Gregor Gysi hat in seiner wunderbaren YouTube-Serie „Missverstehen sie mich richtig“ ein anderthalb stündiges Gespräch mit Uschi Brüning aufgezeichnet. Absolut sehenswert! Durch Deine Hinweise haben sich mir vollkommen neue Horizonte erschlossen. Danke Reinhard für deine Inspirationen!

  3. Moin,

    schöner “post”. Den Inhalt des “Catcher” hatte ich komplett verdrängt. Ganz im Gegensatz zur Musik von Uschi Brüning. Schade, daß sie sich bei ihren Auftritten kaum aus der ESBZ heraus zu trauen scheint. Bis auf ein paar wenige Auftritte in Hh findet alles “drieben” statt. Ich finde es spannend zu sehen wie anders sich Uschi Brünings Lebensweg entwickelt hat im Vergleich zu dem von Inge Brandenburg. Ebenfalls in Leipzig geboren, ebenfalls deutsche Jazzsängerin…

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