Am Lagerfeuer

Dystopische SF-Romane beginnen oft mit dem Gespräch mit dem alten Mann, vorzugsweise am Lagerfeuer. Der erzählt dann immer, wie es früher war, die Geschichten von den Autos, die es gab. Und von Wahlen und von der Möglichkeit, andere Kontinente zu besuchen. Und die Kinder glauben das immer so gar nicht und der Held der Geschichte nimmt das für bare Münze und macht sich dann auf, diese Vergangenheit zu suchen und am besten wieder herzustellen.

Das ist natürlich ein abgegriffener Autorentrick, weil man sich dann die langweilige Vorgeschichte zur Einführung in das Szenario sparen kann und man auch Dinge weglassen kann, die man als allwissender Erzähler natürlich verraten müsste, die aber die ganze Spannung killen. Denn schließlich soll der Held das ja alles erst mühsam rauskriegen.

Aber so ganz langsam glaube ich, wir sollten diese Lagerfeuer anzünden und die Leute ausbilden, die dann von Lagerfeuer zu Lagerfeuer ziehen und die Dinge erzählen. Und die dann auch so weit es möglich ist, nur das weitergeben, was sie gehört haben und nichts dazuerfinden oder weglassen.

Mit der Erfindung der Schrift und besonders des Buchdrucks sind die Geschichtenerzähler an den Lagerfeuern anscheinend überflüssig geworden. Aber die Autoren haben recht schnell kapiert, dass sie jetzt einfach blühenden Unsinn verzapfen konnten, ohne Gefahr zu laufen als Höhlenbärensnack zu enden. Gut, den Autor des „Hexenhammer“ haben sie dann doch mit Schimpf und Schande aus Innsbruck gejagt, aber er durfte dann immer noch 20 Jahre lang Gift und Galle spucken, bevor der Teufel ihn zwangsweise in der Hölle einquartieren musste.

Das mit den Büchern hat dann mit Unterbrechungen halbwegs brauchbar geklappt – zwischendrin gab es immer mal wieder Idioten, die nicht lesen konnten und deshalb die Bücher verschürt haben, einige waren sogar dazu zu dumm und haben die Bücher im Sommer auf offener Straße verbrannt. Da konnte man sich nicht mal dran wärmen oder wenigstens Würstchen grillen.

Ende des letzten Jahrtausends dann wurde das Internet erfunden. Und langsam aber sicher begannen zuerst die Fachbücher und dann die Lexika zu sterben. Früher gab es Standardwerke, die jeder Student haben musste. Den „Bronstein“ zum Beispiel. Den gibt es immer noch, aber die letzte Auflage ist von 2020 und es gibt ihn mittlerweile auch als HTML-Struktur. Der Brockhaus ist tot, die Britannica ist tot. Die „Galactica“ ist noch Science Fiction und der „Anhalter“ leidet darunter, dass die Redaktion auf Froschstern Alpha von den Vogonen zerstört wurde und jetzt jeder Trottel dort posten kann.

Die Wikipedia hat die Lexika gekillt. Und jetzt killt die KI die Wikipedia. Bücher, die früher ernsthaft Geld kosteten, die vor Geheimpolizisten versteckt wurden, die als kostbare Schätze bei Vertreibungen mitgeschleppt wurden – jetzt stehen sie in alten Telefonzellen, liegen auf Parkbänken, landen in Altpapiercontainern. Eigentlich schade, denn der Widerstand hat früher in Büchern Geheimcodes versteckt, die die Gestapo selbst nach stundenlanger Suche nicht gefunden hat. Heute braucht der Nachrichtendienst nicht mal mehr den warmen Sessel im Büro verlassen.

Die KI sorgt mittlerweile dafür, dass die User nicht mal mehr in die Fachartikel gehen müssen, sie weiß auf jede Frage eine Antwort. Vor 30 Jahren hat die ct in einem April-Artikel mal den DAU-Knopf bei Windows herbeiphantasiert. Zwischen „Abbrechen“ und „OK“ sollte der „Do it as usual“ – Knopf platziert werden, der beim Betätigen eine kurze Onlineabfrage macht, welche Aktion die meisten machen. Mittlerweile hat man „Abbrechen“ und „OK“ eingespart und statt „DAU“ steht jetzt auf dem Knopf „Weiter“.

Es wird Zeit, dass wir wieder Lagerfeuer anzünden. Über denen man Würstchen braten kann, die wärmen, und an denen alte Männer und Frauen sitzen, die nach bestem Wissen und Gewissen erzählen, was sie wissen, weil sie sonst kein Würstchen abkriegen. Und mittelalte Männer sich die Geschichten merken und in andere Dörfer gehen und sie dort weitererzählen, bis sie dazu zu alt sind und selbst als alte Männer am Lagerfeuer sitzen.

Es wird Zeit.

7 Replies to “Am Lagerfeuer”

  1. Es wird Zeit!
    Allerdings war die Zeit eigentlich nie vorbei…
    Durch die Lebenserfahrungserzählungen meines Großvaters am Ofen (keine Lagerfeuer – in der DDR wurde vielerorts „klassich“ mit Holz, Braunkohle, selten Steinkohle oder Koks, geheizt) habe ich mehr gelernt, als durch viele Bücher und noch mehr Internet-Seiten, die ich in meinem Leben gelesen habe.
    Klar, die Relativitätstheorie konnte Opa mir nicht erklären. Das mussten meine Professoren übernehmen.
    Aber Opa hat mir, in einfachen Wort, dafür aber sehr deutlich, erklärt, wie relativ alles wird, wenn du nix zu beißen hast. Oder wenn die Herrschenden meinen, junge Männer aufeinander hetzen zu müssen um sich gegenseitig umzubringen…
    Es wird Zeit, dass wir uns an die Erzählungen unserer Eltern und Großeltern erinnern, sie weitertragen und dafür sorgen, dass wir das alles nicht doch noch am eigenen Leibe erfahren müssen!

  2. Ja, da sagst Du was. Als Schriftsetzer war man in den 70ern praktisch „automatisch“ auch bei der Büchergilde Gutenberg Mitglied. So wie mein Großvater in den 1920ern als Schweizerdegen auch. Mein letztes gebraucht gekauftes Buch vor ein paar Wochen: Thomas Mann, sämtliche Erzählungen, Büchergilde Gutenberg 1973. Und die uralten Jack London Ausgaben meines Großvaters aus den 1920ern werden nicht weggeschmissen. Jedenfalls nicht von mir.

  3. Der Beitrag stimmt mich (77) trübsinnig, denn er rührt an meine eigenen, vergeblichen Versuche, von „früher“ zu erzählen oder Interesse für viele Jahrzehnte Familienfotos zu wecken. Meine traurige Erfahrung ist leider, daß dieses Interesse nicht einmal im mittleren Alter vorkommt, sondern erst noch später. Vorzugsweise, wenn es zu spät ist und die Alten nicht mehr erzählen können.
    Vielleicht ist das Lagerfeuer mit dem Lockmittel Würstchenbraten tatsächlich die Methode, um die Nachkommen rechtzeitig zu interessieren.

    1. Noch sind wir im Zeitalter der Schrift. Auch mein Nachwuchs pfeift noch auf die Vorfahren. Also versuche ich, all das Zeug, was einem bei den verschiedenen Nachlässen in die Finger kommt, aufzuarbeiten, in einen Bezug zu setzen und dann zum Schluss Fotobücher draus zu machen. Ich habe uralte Zeitungsausschnitte, Briefe und Postkarten und aus all dem wird zum Schluss eine persönliche Zeitgeschichte. Das Ganze in Hardcover und man hat etwas, das eine gewisse Chance hat, zu überdauern. Der Karton mit den alten Familienfotos oder die Festplatte mit den Daten – das fliegt auf den Müll. Ein solches Buch – oder vielleicht auch mehrere Bücher – mit der Essenz der Zeit, die nimmt man dann doch mal bei der Wohnungsauflösung oder dem Umzug mit.
      Und eine Bitte, die vielleicht schräg wirkt: Macht eines mehr und gebt es im Stadtarchiv ab. Ich habe früher selbst mit solchen Nachlässen im Stadtarchiv gearbeitet und es gibt keine wertvollere Quelle.

      1. Das erzählte und gehörte Wort ist für mich noch immer wichtig. (Gerade neu Rentner)
        Ich erzähle regelmäßig zum oder nach dem Essen meinen erwachsenen Kindern Geschichten aus aus meinem Leben oder auch über gemachte Erfahrungen oder gerade gelerntes Wissen. Manchmal heißt es – hast Du schon erzählt… egal, ich mag das und vielleicht bleibt ja etwas hängen. Einfach mal machen und schauen wie es ankommt. Bisher wird doch recht gern zugehört und manchmal entwickeln sich interessante Diskussionen. Das macht mir dann viel Freude.

  4. Falls sich niemand am Lagerfeuer dazusetzen möchte, dann könnte man
    sich alleine am Lagerfeuer hinsetzen, eine Kamera einschalten und die
    entsprechenden Geschichten erzählen bzw. aufnehmen. Dann die Aufnahmen
    auf Film ausbelichten und für die zukünftigen Generationen archivieren.

  5. Wie recht du hast! Ich erinnere mich an die Erzählungen meines Vaters (Jahrgang 1920) wie er als verwundeter Panzerleutnant (zur Genesung in der Heimat) im April 1945 mit einer Gruppe ebenfalls verwundeter Soldaten und nur mit Pistolen bewaffnet das Autobahnkreuz bei Hermsdorf in Thüringen gegen die aus Jena anrückenden US-Streitkräfte „verteidigen“ sollte.
    Damals war ich zu jung um diese Geschichte aufzuzeichnen-jetzt wo die „Reife“ da ist, ist es zu spät! Schade, denn diesen Irrsinn glaubt ja nun kaum noch jemand!

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