Kein Fisch am Freitag – Prolog

Der fast 80jährige große Vorsitzende nickte nur kurz. Vor ihm lag ein ganzer Stapel kleiner, in rotes Plastik gebundener Bücher, mit einem goldenen Stern darauf. Es war die Botschaft, die er in die Welt hinaussenden wollte. Die meisten dieser Bücher konnte er nicht lesen, auch wenn sie von ihm stammten. Auf einem stand “Quotations from chairman Mao Tse Tung”. In Großbuchstaben. Vor einem Jahrzehnt hatten sie das mal in Chinesisch und Englisch herausgebracht, aber da die im Westen kein Mandarin lesen konnten, war diese neue Taschenausgabe nur auf Englisch.

Er hatte sich nach seinem Schlaganfall im letzten Jahr nur äußerlich halbwegs erholt und kämpfte um jeden Gedanken. Auf der vierten Seite, nach dem Transparentpapier, auf dem er bestanden hatte, war ein uraltes Porträt von ihm. Den Heiligenschein um sein Porträt von der Erstausgabe auf dem Cover hatten sie durch den kleinen goldenen Stern ersetzt. Und sie hatten ihn überzeugt, dass Kopf im Strahlenkranz im Westen nicht so gut kommt, ein seriöses Porträt auf Seite vier wirke bodenständiger, wissenschaftlicher. Man wolle dem Kapitalismus die chinesische Prächtigkeit ja nicht mit dem Holzhammer aufdrücken.

Das Werk, das recht bald als “Mao-Bibel” bekannt werden sollte, sah aus wie ein harmloser Taschenkalender. Man konnte sie in die Hosentasche stecken, zwischen zwei Händen vollständig verbergen und innerhalb kürzester Zeit war sie das am weitesten verbreitete Druckwerk. Innerhalb weniger Jahre erreichte die Mao-Bibel eine Auflage von über einer Milliarde. Die Gesamtauflage aller Christenbibeln zu allen Zeiten weltweit erreichte immerhin etwa vier Milliarden.

Das wohl bekannteste Zitat aus diesem Buch ist “Der Kapitalismus ist ein Papiertiger”. Ein weniger Bekanntes: “Man soll auch nicht zu lange Sitzungen abhalten.” (Aus “Arbeitsmethoden des Parteikomitees, 1949”)

Der große Vorsitzende kratzte sich am Hinterkopf. Das was da vor ihm lag, waren jeweils nur die Belegexemplare der gigantischen Auflage, die der Verlag für fremdsprachige Literatur gedruckt hatte. Die Genossen erwarteten etwas von ihm. Irgendetwas Bedeutendes. Wenn er sich nur wenigstens an eines seiner eigenen Worte aus dem Buch erinnern könnte. Irgendwas passendes. “Die Atombombe ist ein Papiertiger” war es wohl nicht. Man sollte sich eben sehr davor in acht nehmen, dass man überheblich wird. Auch wer keine schweren Fehler begangen und sogar große Erfolge in seiner Arbeit errungen hat, darf nicht überheblich werden. Was sollte er nur sagen? Er war sicher, die wartenden Genossen kannten die 267 Zitate alle mit Quellenangaben auswendig.

Sein Kopf war wie vernagelt.

“Der entscheidende Faktor sind die Menschen, nicht die Dinge” brachte er heraus. “Ich danke Ihnen”. Allgemeines Klatschen. Alle machten sich davon, er blieb allein mit dem Stapel kleiner Bände.

Welches Zitat wäre nun das passende gewesen? Er griff sich die englische Ausgabe und fing an zu blättern. Seit dem Schlaganfall hatte er Problem mit dem Lesen, aber “Die Kommunisten müssen auch beim Lernen ein Vorbild sein.” Richtig, das stammte aus dem “Platz der kommunistischen Partei im nationalen Krieg”. Das war, als die Japaner China überfallen hatten. Und da war es schließlich. Denn 1938 hatte er auch den “Langwierigen Krieg” geschrieben. Und daraus stammte der Satz mit dem entscheidenden Faktor.

Erleichtert seufzte er auf. Sein Gedächtnis hatte geliefert, ohne dass er es gemerkt hatte. Er zog das rote Lesebändchen auf der Seite in der Mitte des Büchleins durch, nahm einen Stift und schrieb eine kurze Bemerkung an den Rand. Er grinste. Das wenn Nixon zu lesen bekäme….

Eine halbe Stunde später kam der Sekretär zum Abräumen in das leere Zimmer. Das einzeln liegende, englische Buch mit dem herausstehenden Lesebändchen erweckte seine Aufmerksamkeit. Er schlug es fast automatisch auf. Da er kein Englisch sprach, erwartete er keine neuen Erkenntnisse, aber er wollte das Lesebändchen wieder korrekt einlegen. Da fiel sein Blick auf die kleinen Schriftzeichen am Rand. Er lief rot an, und steckte das kleine Büchlein in die Hosentasche.

Aus diesem Grund fehlte im Nachlass des großen Vorsitzenden später das englische Belegexemplar der Mao-Bibel.

4 Replies to “Kein Fisch am Freitag – Prolog”

  1. Mir ist nur ein Spruch geläufig, der ihm zugeschrieben wurde: “Wenn es nicht weh tut, spielt es keine Rolle”

    Manches an Artikel in diversen Foren schmerzen schon ziemlich….

    Siegfried

  2. Ich hab zufällig während meines Studiums der Sinologie eine Kopie dieser Seite gesehen. Die Randnotiz des Großen Vorsitzenden war: 我年轻的时候真的相信这一切吗?

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